Do. Apr 25th, 2024

Eine spannende und gruselige Geschichte aus dem Buch „Unheimliche Geschichten.

Die neuen Nachbarn
„Nebenan sind neue Nachbarn eingezogen“, sagte Vater und blickte von seiner Zeitung auf. Kathy zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Och! Sicher wieder alte Leute, die rummeckern, wenn ich zu laut bin.“
„Diesmal etwas jünger. Sie sollen eine Tochter haben – etwa neun Jahre alt, glaube ich.“ Vater zwinkerte lustig mit den Augen.
Das Mädel mit dem dunklen Lockenkopf sprang ungestüm vom Frühstückstisch auf und stieß dabei ihren Becher mit Kakao um. Eine hässliche braune Pfütze bildete sich auf der geblümten Tischdecke.
„Kathy!“, tadelte Mutter und lief nach einem Wischtuch.
„Dann ist sie ja ungefähr so alt wie ich. Ich werde nächste Woche neun!“ Die Kleine hopste vergnügt auf einem Bein durch die Küche.
„Darf ich gleich mal schauen gehen?“
„Erst wenn du dein Frühstück beendet hast“, ant-wortete ihre Mutter.
Kathy war ein Flugzeug. Mit weit ausgebreiteten Armen düste sie dem alten Haus auf dem verwilderten Grundstück entgegen. Früher hatte sie gerne hier gespielt, aber das Pärchen im Rentenalter, das vor zwei Jahren hier hergezogen war, hatte keine Kinder auf seinem Besitz geduldet. So, nur noch die Straße überqueren! Vorsichtig schaute sie nach links und nach rechts, wie sie es gelernt hatte. Nun noch einmal links. Das Auto kam von rechts um die Ecke geschossen und war viel zu schnell. Verdutzt saß Kathy auf der Straße und blickte dem davondüsenden Fahrzeug hinterher. Das wäre beinahe schief gegangen! Aufatmend rappelte sie sich hoch.
„Die Dorfstraße ist die reinste Rennstrecke geworden“, sagte Mutter immer.
Zu ihrer Enttäuschung spielte die Nachbarstochter nicht im Garten, aber die Eingangstür des baufälligen Fachwerkhauses stand offen. Kathy konnte also unbemerkt hineinhuschen und erstmal die Lage peilen.
Unten erklang leises Weinen aus einem der Zim-mer. Oje! Dann doch lieber die steile Treppe hinauf. Da war die Tür nur angelehnt, super. Das Mädchen schlich näher. In einem Bett lag eine kleine Gestalt mit langen blonden Haaren und geschlossenen Augen.
„Hallo, ich bin Kathy. Wir sind Nachbarn. Schläfst du etwa noch?“ Vorsichtig stupste sie die Fremde an. Diese fuhr hoch und rieb sich verwundert die Augen.
„Oh – ich muss liegen, ich bin krank.“
„Was hast du denn? Tut dir was weh?“
„Es ist eine Blutkrankheit.“ Mitleidig sah Kathy die Nachbarin an.
„Wie heißt du eigentlich?“
„Samantha, sie sagen Sammy zu mir.“
„Okay Sammy! Soll ich dir eine Geschichte erzählen?“
Sammy nickte begeistert, und Kathy war in ihrem Element. An Fantasie mangelte es ihr nicht. Einmal sah eine Frau kurz ins Zimmer und ging wieder.
„Mir geht es schon viel besser“, sagte Samantha plötzlich und sprang leichtfüßig aus dem Bett.
„Das ist ja super! Sollen wir im Garten spielen?“
„Wir könnten uns hinunterschleichen, damit meine Mutter uns nicht sieht!“ Ausgelassen kicherten die zwei.
Sie erforschten das Grundstück, spielten Verstecken und Fangen.
„Hier fehlt eine Schaukel!“
Sammy sah plötzlich traurig aus.
„Weißt du, ich bin seit langer Zeit zum ersten Mal wieder draußen. Vielleicht kann mein Vater nächste Woche eine anbringen lassen.“
„Nächste Woche habe ich Geburtstag. Ich werde neun“, antwortete Kathy stolz. „Ich will mal meine Eltern fragen, ob ich dich einladen darf. Du kommst ja sicher nach den Ferien auch in meine Klasse.“
„Ich glaube nicht! Bisher hatte ich zu Hause Unterricht. Aber es wäre schon schön.“
„Wo habt ihr denn vorher gewohnt?“
„In einer großen Stadt. Der Arzt hat gesagt, die Landluft würde mir gut tun.“
Kathy strahlte.
„Siehst du, er hatte recht! Es geht dir schon viel besser! Das Meer ist auch nicht weit weg von hier.“
„Ich möchte so gerne mal dort hin“, erwiderte Sammy. „Aber ich darf sicherlich nicht!“ Plötzlich fiel ihr etwas ein.
„Sollen wir oben den Speicher mal durchstöbern? Die vorherigen Bewohner haben da jede Menge Gerümpel hinterlassen, sagt meine Mutter.“
„Au ja!“ Leise schlichen die Kinder die knarrigen Holzstiegen hinauf bis zum Dachboden.
„Ist das unheimlich hier“, fand Kathy und öffnete im Halbdunkel neugierig einen alten Koffer.
„Wow, Klamotten!“ Lachend probierten sie uralte Kleider mit Spitze und ausladenden Röcken an und suchten Hüte dazu aus.
„Der da, in lila mit der Feder“, kreischte Sammy und stülpte ihn Kathy über den Kopf. Sie vergnügten sich eine ganze Weile und fanden dann einen Stapel mit staubigen Büchern.
„Schau mal, das ist ja eine ganz andere Schrift. Einige Buchstaben kann ich lesen, andere nicht!“
„Ich glaube, wir müssen langsam wieder hinuntergehen! Sonst macht meine Mutter sich Sorgen“, überlegte Sammy. Doch dann fanden sie eine Kiste mit Spielen …
Als sie endlich fertig waren, schien das Haus leer und verlassen.
„Komisch“, sagte Sammy. „Meine Mutter sagt mir eigentlich immer Bescheid, wenn sie fortgeht.“
Kathy lachte:
„Das konnte sie ja nicht, wir waren doch verschwunden!“ Beide Mädchen kicherten ausgelassen.
„Kennst du eigentlich den Friedhof schon?“, fragte der Lockenkopf. „Natürlich nicht“, lautete die Antwort.
„Dann los! Da ist es immer so schön unheimlich, und genau davor steht ein toller Kletterbaum!“
Sie mussten eine Weile laufen bis zur alten Kirche und dem angrenzenden Friedhof.
„Was ist denn da los?“, fragte Sammy erstaunt.
„Eine Beerdigung“, stellte Kathy fest. „Ich war mal auf einer. Das war traurig, da haben alle geweint.“
„Dann lieber nicht.“ Das Mädchen mit dem langen blonden Haar zögerte.
„Komm schon, lass uns hingehen. Nur ganz kurz!“ Die Freundin marschierte bereits durch das Tor auf die Trauergemeinde zu.
„Vielleicht ist deine Mutter ja hier.“
Sie waren alle da, das ganze Dorf schien versammelt.
„Heute nehmen zwei kleine Seelen von uns Abschied“, sagte Pastor Heinrich gerade. Unterdrücktes Schluchzen ertönte.
„Mama, wer ist denn gestorben?“ Kathy griff nach der Hand ihrer Mutter, die ganz dicht an einem der ausgehobenen Gräber stand.
„Samantha Gebhard war seit Jahren unheilbar krank und wurde von ihrem schweren Leiden erlöst. Katharina Paulsen wurde das Opfer eines betrunkenen Autofahrers, der zudem noch Fahrerflucht begann. Sie wäre heute neun Jahre alt geworden. Beide Kinder verstarben etwa zur gleichen Zeit …“ Den Rest der Rede nahm Kathy nicht mehr wahr. „Mama, ich bin doch hier!“, schrie sie. Sammy legte tröstend den Arm um die Schulter ihrer neuen Freundin.
„Sie können uns nicht mehr sehen oder hören, Kathy. Wir sind doch tot … Lass uns auf den Boden gehen und weiter spielen.“

Mehr unheimliche Geschichten gibt es hier:

Auch als Taschenbuch erhältlich

©byChristine Erdic

Firmeninformation
Die deutsche Buchautorin Christine Erdic lebt zur Zeit hauptsächlich in der Türkei.
Beruflich unterrichtet sie in der Türkei Deutsch für Schüler (Nachhilfe), sie gab
Sprachtraining an der Uni und machte Übersetzungen für türkische Zeitungen.
Mehr Infos unter Meine Bücher- und Koboldecke
https://christineerdic.jimdofree.com/
https://literatur-reisetipps.blogspot.com/

Pressemitteilung teilen:

Schreibe einen Kommentar